Taschen aus Flüchtlingsbooten: Im Gespräch mit mimycri
Upcycling, Reparieren, Ressourcen schonen, Wiederverwerten – über diese Themen denken wir gerade viel nach. Wenn dann noch ein Material mit Bedeutung und Geschichte wiederverwertet wird und daraus und ein individuelles, hochwertiges Produkt neu entsteht, finden wir das gleich doppelt gut. mimycri macht Taschen. Aber nicht aus gewöhnlichem Stoff oder gar Leder. Die Bauchtaschen, Rucksäcke, Laptop-Taschen und Shopper werden produziert aus dem Material von Schlauchbooten, mit denen Geflüchtete übers Mittelmeer kommen.
Bevor da draußen der ganze Corona-Wahnsinn ausgebrochen ist, haben wir mimycri in ihrem Studio in Alt-Treptow besucht. Und mit den Gründerinnen Vera und Nora, sowie mit Khaldoun und Abid gesprochen. Übers nicht Wegschauen, den Kreativprozess, wenn man zu viert auf knapp 25 Quadratmeter arbeitet und über die Tücken beim Vernähen der dicken Gummiplane.
Ein Besuch bei mimycri
Ihr macht Taschen und Rücksäcke aus Flüchtlingsbooten. Wie kam es dazu? Was war Eure Intention, mimycri zu gründen?
Vera: mimycri gibt es seit 2017. Nora und ich waren gemeinsam mehrere Monate als Helferinnen auf der griechischen Insel Chios. Teil unserer Arbeit war es, Menschen am Strand in Empfang zu nehmen, ihnen trockene Kleidung zu geben und mit Essen und Trinken zu versorgen. Aber eben auch die Strände aufzuräumen. Schließlich war alles voller Rettungswesten und nasser Kleidung, die Menschen ausziehen müssen. Und eben voller kaputter Boote.
Wir haben uns dabei immer schon Gedanken gemacht, was man hier strukturell ändern kann. Etwa nasse Kleidungsstücke zu waschen und wiederzuverwerten, sodass man Spendengeldern für andere Zwecke und Projekte einsetzen kann.
Dabei war auch eine Frage, was man mit den Bootsmaterial machen kann, das einerseits Zeuge dessen was dort passiert, aber andererseits eben auch sehr robustes und interessantes Material ist. Zurück in Deutschland war uns klar, dass wir hier weiter aktiv sein wollten: Wir wollten Aufmerksamkeit für die Situation im Mittelmeer schaffen aber auch konstruktive praktische Lösungen finden.
Wir hatten in Griechenland viele Leute kennengelernt, die in ihren Heimatländern Schneiderinnen und Schneider waren. Daher die Überlegung: Was kann man mit dem Material machen, so dass man einerseits Aufmerksamkeit generiert, aber andererseits auch für die Menschen, die hier neu ankommen, Arbeitsmöglichkeiten schafft? Wir haben lange überlegt und irgendwann sind wir bei der Idee gelandet, Taschen und Rucksäcke zu machen.
„Wir wollen Aufmerksamkeit für das Thema schaffen, haben dabei aber einen anderen Zugang wählen, als das klassische Erzählen oder Bilder zeigen. Wir sind große Verfechterinnen davon, einen Ansatz zu wählen, der soziale, ökonomische, ökologische Aspekte gleichermaßen vereint.“
Nora, Co-Founderin
Woher genau bekommt Ihr Euer Material?
Vera: Von den griechischen Inseln Chios und Lesbos. Auf beiden Inseln arbeiten wir mit Organisationen zusammen, die – zumindest bis vor kurzem noch – großartige Arbeit geleistet haben. Menschen in Empfang genommen haben, und eben weiterhin auch die Strände gereinigt haben. Und, anstatt das Material der Boote wegzuwerfen, wie es gehandhabt wurde, bevor es mimycri gab, sammeln die das jetzt. Sobald eine oder zwei Paletten voll sind, wird das Material nach Berlin geschickt. Wir unterstützen diese Organisationen mit ca. 3 % unserer Einnahmen, machen gleichzeitig aber natürlich aufmerksam auf deren Arbeit und vermitteln auch Menschen, die als Freiwillige dort arbeiten wollen.
In welchem Zustand kommt das Material bei Euch an? Die Boote werden an den Stränden ja aktiv zerstört?
Vera: Ja, die Boote sind entweder schon kaputt und lassen oft Luft, weil sie eben viel zu schwer beladen sind. Oder sie werden von der lokalen Bevölkerung oder teilweise den Behörden kaputt gemacht, damit man mit ihnen nicht mehr zurückfahren kann. Aber die Boote sind nicht komplett zerfetzt. Sie sind so kaputtgemacht, dass man sie nicht mehr nutzen kann und sie auch nicht mehr repariert werden können. Das Material ist meist in gutem Zustand. Wir können ca. 90 % eines Bootes verarbeiten. Der Rest wird herausgeschnitten und vor Ort entsorgt.
Was passiert mit dem Material, sobald es in Deutschland ist? Was sind die nächsten Schritte?
Vera: Das Material kommt grob zugeschnitten, aber nicht gereinigt bei uns an. Wobei man alle Teile natürlich nochmal überprüfen muss – das machen Abid und Khaldoun. Sind da Löcher drin? Hat das Material Kratzer? Für uns ist es super wichtig, dass unsere Produkte ein Qualitätsanspruch erfüllen und nicht direkt nach ein paar Mal Tragen diesen „gebrauchten Schlauchboot-Look“ haben. Nach der Kontrolle werden die Patterns zugeschnitten, anschließend gewaschen und getrocknet. Dann können sie zu Produkten genäht werden.
Bleiben wir mal beim Material: Wie ist das Arbeiten mit Gummiplanen? Als Schneider ist man ja doch andere Stoffe gewohnt.
Abid: Ich habe in Pakistan fast 20 Jahre Hemden und T-Shirts genäht und mit allen möglichen Textilstoffen gearbeitet. Die Gummiplanen hier waren neu für mich. Und ja: eine Challenge. Am Anfang war es wirklich komisch und schwer. Leder ist da viel einfacher. Als ich das Material zum ersten Mal gesehen und angefasst habe, hab ich gesagt: Wir brauchen starke Maschinen. Mit einer normalen Nähmaschine … uh. Wir haben dann viel herumprobiert um herauszufinden, was funktioniert.
Was sind die größten Herausforderungen beim Vernähen oder Bearbeiten dieser Gummiplanen?
Khaldoun: Das Material ist dick und hart, das muss man an der Maschine richtig beherrschen. Wenn man kleinere Teile vernäht, ist das nicht so schlimm. Aber bei großen Stücken – bei großen Taschen oder Rucksäcken – ist das schon schwierig.
Schlauchboote, die man von den Nachrichtenbildern kennt, sind doch meistens schwarz. Bei euren Produkten findet man aber auch viele knallige Farben. Kommt hierfür anderes Material zum Einsatz?
Vera: Wir verwenden tatsächlich nur das Material der Boote. Außer wir arbeiten mit speziellen Kooperationspartnern, die ein anderes Material wollen. Die Farben überraschen uns tatsächlich auch immer wieder. Sie kommen nicht vom Äußeren der Boote, sondern von den Luftkammern innerhalb des Schlauchbootes. Das Material ist ein klein wenig dünner und leichter zu verarbeiten. Wir bekommen teilweise pink, neongrün, rot … aber ja, das ist tatsächlich alles Bootsmaterial.
Welche Gedanken hat man, wenn man jeden Tag mit Material arbeitet, an dem gleichermaßen so viel Leid und Hoffnung „klebt“?
Abid: Ja, ich denke schon oft daran, wenn ich arbeite.
Ich bin auch mit so einem Boot nach Griechenland gekommen. So viele Leute – 47 Leute, davon sieben Kinder…
Das ist schon schwer. Manchmal denke ich mir: Ich brauche jetzt eine Pause. Dann gehe ich nach draußen, eine rauchen. Und dann komme ich wieder und arbeite weiter. Aber so etwas vergisst man nicht.
„Es ist sicher nicht immer einfach gewesen und das ist es bis heute nicht. Aber es ist auch nicht unser Ziel, dass es einfach ist. Für mich – und das ist auch einer der Gründe, warum mimycri mit diesem Material arbeitet – ist es auch ein Akt des Nicht Wegschauens.“
Vera, Co-Founderin
Vera: Dieses Material existiert. Es ist da. Es erzählt sehr viel direkter nochmal, als Bilder oder Videos, was da passiert.
Und sich damit auseinanderzusetzen ist nicht einfach, aber es bedeutet auch, dass man anerkennt, dass alle Menschen, die in Europa leben, damit verbunden sind. Und wie unsere europäische Politik funktioniert.
Mir hilft es, dass wir dieses Material weiterverwerten. Dass wir gerade dahin schauen, wo es nicht einfach ist. Und, dass wir aber auch nicht nur sagen „es ist nicht einfach und so furchtbar“, sondern dass wir praktisch sagen „daraus kann etwas gemacht werden“.
Oder im symbolischen Sinne: Ja, das ist eine Herausforderung, die es gibt, aber wir können damit umgehen und arbeiten. Und nur weil es nicht einfach ist, heißt es nicht, dass es das nicht wert ist.
Ein anderes Material kommt also nicht infrage?
Vera: mimycris Wunsch wäre natürlich, dass es uns irgendwann nicht mehr geben muss. Weil wir Lösungen gefunden haben, dass Menschen auf dem Mittelmeer nicht ihr Leben riskieren müssen, um irgendwo in Sicherheit zu kommen. Aber selbst dann glauben wir, dass es einen wichtigen Beitrag leisten kann, mit einem anderen bereits existierenden Material und mit Menschen zusammenzuarbeiten, die sonst nicht so leicht Arbeit finden, und hochwertige Produkte herzustellen.
Wie kann man sich Euren Kreativprozess vorstellen? Ihr arbeitet ja alle auf ziemlich engem Raum zusammen. Wie beeinflusst dieses Miteinander Eure Kreativität?
Vera: Es war für uns eine bewusste Entscheidung, dass wir gesagt haben: Wir wollen gemeinsam alle in einem Raum arbeiten. Weil das eben auch ein zentraler Punkt dieses Projektes ist: unterschiedlichste Menschen arbeiten zusammen und tauschen sich aus. Ich denke besonders kreativ sind wir, wenn wir neue Produkte entwickeln. Weil wir keinen Chef-Designer*in haben, sondern wir die unterschiedlichsten Menschen – auch nicht nur aus unserem Team – dazu einladen, zusammenzukommen und eben mitzugestalten. Natürlich orientieren wir uns irgendwo an Design-Guidelines, damit das Ergebnis nach was aussieht. So haben wir schon in mehreren Design-Sessions neue Produkte entwickelt. Und das Nebenprodukt des Ganzen ist, dass sich unterschiedlichste Menschen begegnen und sich nicht nur austauschen und unterhalten, sondern tatsächlich auch an einem gemeinsamen Ziel arbeiten.
Wie wir aus Wissenschaft und Forschung wissen, ist dies der effektivste Weg, Vorurteile abzubauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern. Auch wenn es viel Zeit und Energie kostet, haben wir uns deswegen entschlossen unseren Designprozess so zu gestalten.
Was kommt als Nächstes bei mimycri? Wo soll die Reise hingehen?
Vera: Zum einen denken wir immer konkreter darüber nach, Teile der Produktion auch in Griechenland aufzubauen. Dort wo das Material herkommt. Es ist natürlich toll hier vor Ort neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber Menschen, die hier ankommen, erhalten bereits viel Unterstützung. Und es gibt recht viel Arbeit. In Griechenland ist jeder einzelne Arbeitsplatz, der neu geschaffen wird, extrem wertvoll. Und Projekte, bei denen die lokale Bevölkerung und Menschen mit Fluchterfahrung zusammenarbeiten, sind super wichtig um die Akzeptanz seitens der Bevölkerung gegenüber Menschen, die fliehen müssen, zumindest nicht komplett kaputtzumachen.
Außerdem wollen wir Workshop-Formate ausbauen. In unserem Kreativ- und Designprozess haben wir viel Potenzial erkannt. Und bieten inzwischen auch Designworkshops an. Wir hatten schon Unternehmen da, die mit ihrem eigenen Material zu uns kommen, weil sie neue Produkte fertigen wollen und Ideen brauchen. Oft geht es aber auch um Leadership Werte. Wir wenden Kreativmethoden an, in denen Führungsebenen von Organisationen und Unternehmen ihre Rolle reflektieren. Welche gesellschaftliche Verantwortung bringt die Rolle mit sich in Bezug auf das Thema Migration. Wie kann ich in meinem Unternehmen unterschiedlichste Menschen beschäftigen und auch miteinbeziehen? Aber auch im Bereich Nachhaltigkeit: Wie kann ich noch nachhaltiger meine Lieferkette gestalten? Diesen Bereich haben wir in den letzten Monaten mit aufgebaut und hier wollen wir auch im nächsten halben Jahr ganz verstärkt dran arbeiten. Weil es uns bei mimycri ja schon darum geht, einerseits Aufmerksamkeit zu schaffen, andererseits auch Menschen dazu zu inspirieren anders zu handeln und Chancen zu sehen anstatt nur die Herausforderung. Wir haben gemerkt das kann man einerseits durch unsere Produkte, aber eben auch, indem man mit Schlüsselpersonen zusammenarbeitet.
Ihr sagt ein zentrales Ziel von mimycri ist es auch, das Fluchtthema in der Öffentlichkeit zu halten. Mit #humanitätjetzt habt ihr habt zahlreiche Unternehmer und Promis aktiviert, sich solidarisch zu zeigen, und den Offenen Brief an Horst Seehofer zu unterzeichnen. Wie geht es euch dabei?
Vera: Jetzt wo das Thema wieder so präsent ist, sind wir total froh, dass wir in der Position sind, in der wir sind. Und dass wir eben nicht nur die klassischen Flüchtlingsorganisationen aktivieren können, diesen Brief zu unterzeichnen. Sondern, dass wir auch in der Fashion- und Sozialunternehmer-Szene Leute kennen. Und dadurch, wie wir uns positioniert haben, Bereiche der Gesellschaft erreichen, die sich sonst nicht unbedingt so viel mit dem Thema auseinandersetzen. Wir haben wieder gemerkt, wie cool und wie wichtig das ist, sich so positionieren zu können. Ohne diesen klassischen „Das sind halt die, die immer“ Stempel. 2015 haben uns sehr viele Leute prophezeit, dass das Fluchtthema bald wieder durch sei. Wir hatten aber immer das Gefühl, je mehr Zeit vergeht, desto wichtiger war es, dass es uns gibt. Um zu sagen: Hey, das passiert immer noch. Und das wird sich auch so schnell nicht ändern, solange wir keine langfristigen Antworten finden.